Der hub.berlin 2022 diesen Sommer war das Leitevent zum Thema Digitalisierung des Spitzenvereins Bitkom. Das Event war auch dieses Jahr wieder ziemlich gut besucht. Man hatte das Gefühl, dass sich die gesamte Tech-Szene Berlins auf dem Gelände des Funkhauses tummelte. Die Eröffnungs-Keynote hielt Herbert Diess, CEO von Volkswagen, höchstpersönlich. Ein Highlight war die Schalte zu Mykhailo Fedorov, Vize-Premierminister und Minister für Digitale Transformation der Ukraine. Neben der Tatsache, dass er erst 31 Jahre alt ist, war es beeindruckend, zu sehen, wie weit die Ukraine bereits bei der Digitalisierung der Verwaltung ist.

Bisher schaute man nach Estland, wenn man wissen wollte, wie digitale Verwaltung geht. Das Land, das 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion seine Unabhängigkeit erlangte, ist heute das Paradebeispiel für digitale Verwaltung. Mehr als 2.500 Services lassen sich digital nutzen. Es gibt nur noch zwei Anlässe, bei denen die Estländerinnen und Estländer zum Amt müssen: Hochzeit und Scheidung. Im Zuge der Digitalisierung konnte Estland mittlerweile mehr als 1.440 Arbeitsjahre in der Verwaltung einsparen. Und dass Digitalisierung keine Frage des Alters ist, zeigt, dass 99 Prozent der Bevölkerung über eine digitale Identität verfügen und diese regelmäßig nutzen.

So kann man in Estland zum Beispiel in nur drei Stunden ein rechtsfähiges Unternehmen gründen. Schneller geht es nur in Denver im US-Bundesstaat Colorado. Dort dauert es nur 15 Minuten. Anschließend hat man wie in Estland seine Steueridentifikationsnummer und kann Gas geben. Im Vergleich dazu Deutschland: Meine Frau hat vor drei Monaten ihr Gewerbe als Grafikdesignerin angemeldet und bis heute noch keine Steueridentifikationsnummer erhalten.

Ukraine beeindruckt mit Digitalisierung der Verwaltung

Blick auf einen belebten Platz in Kiew.
Selbst in der Ukraine ist die Verwaltung digitaler aufgestellt als in Deutschland. Dokumente wie Führerschein oder Reisepass sind dort über eine App digital verfügbar. (Bild: Nextvoyage/Pexels)

Vor diesem Hintergrund hat mich die Ukraine, die sich zu allem Überfluss momentan gegen einen Angriffskrieg verteidigen muss, enorm beeindruckt. Neben der Tatsache, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer auf über 50 Services digital zugreifen können, haben sie auch die Diia-App, mit der sie die wichtigsten Dokumente wie Identifikationsnummer, Geburtsurkunde, Reisepass, Führerschein, Kfz-Brief und Kfz-Versicherung immer bei sich führen. Das führt unter anderem dazu, dass man bei einer Fahrzeugkontrolle die Diia-App öffnet, der Polizeibeamte den QR-Code scannt und alle relevanten Informationen sofort vor sich hat. In Deutschland aktuell undenkbar.

Neulich unterhielt ich mich mit einer jungen Ukrainerin, die beim Ausbruch des Krieges in St. Petersburg studiert hatte und daraufhin Russland Richtung Deutschland verließ. Sie berichtete, dass Deutschland in ihrer Vorstellung ein technologisch hochentwickeltes Land war. Doch als sie hier ankam, musste sie feststellen, dass Länder, die heute als Entwicklungsland oder Schwellenland gelten, darunter auch die Ukraine und Russland, Deutschland um Jahre voraus seien.

Das führt dazu, dass die deutsche Verwaltung alle zehn Jahre Umfragen, wie beispielsweise den Zensus, durchführen muss, um etwas zu erfragen, das längst bekannt ist:

  • Aktuelle Bevölkerungszahlen
  • Daten zur Demografie (Alter, Geschlecht, Staatsbürgerschaft etc.)
  • Daten zur Wohn- und Wohnungssituation wie durchschnittliche Wohnraumgröße, Leerstand oder Eigentümerquote

In Deutschland werden digitale Daten ausgedruckt und abgeheftet

Nahaufnahme eines Formulars, auf dem ein Kugelschreiber liegt.
In Deutschland bekommt man das Gefühl, als müssten viele Daten ständig neu erfasst werden, obwohl diese schon lange vorliegen. Sie werden nicht zentral und sinnvoll abgelegt. (Bild: Krissie/Pixabay)

Wer in Deutschland geboren wird oder offiziell einwandert und von den Sozialleistungen profitieren möchte, der wird automatisch erfasst. Auf einem deutschen Personalausweis oder Reisepass finden sich Informationen wie Alter, Geschlecht und Staatsbürgerschaft. Beim Immobilienkauf wird der Eigentumswechsel im Grundbuch erfasst. Vermieterinnen und Vermieter müssen bei der jährlichen Einkommensteuererklärung angeben, wie hoch die Mieteinnahmen sind oder ob das Objekt leer steht.

Wenn ich sowas höre und am eigenen Leib erfahre, dann gewinne ich den Eindruck, dass das Onlinezugangsgesetzt (OZG) von den Verantwortlichen absichtlich und bei voller Verfügbarkeit ihrer geistigen Fähigkeiten so genannt wurde. Es ist nämlich genau das: Ein Onlinezugang und nicht viel mehr. Und es ist zu klein gedacht. Ich selbst arbeite verwaltungsnah und bekomme berichtet, dass die Daten zwar online erfasst werden, dann aber zum Beispiel händisch in andere Systeme übertragen oder gar ausgedruckt und abgeheftet werden. Deutschland: Ein analoges Entwicklungsland.

Meine lieben Verantwortlichen: Wir müssen endlich raus aus dem Klein-Klein. Die Digitalisierung der Verwaltung birgt in den kommenden Jahrzehnten ein enormes Wertschöpfungspotenzial für Gesellschaft und Wirtschaft. Vielleicht sogar den größten Impact für die Weiterentwicklung von Deutschland überhaupt. Aber vielleicht brauchen wir auch eine Krise, die als Transformationsturbo daherkommt, damit wir endlich aus dem Quark kommen.

(Titelbild: cottonbro/Pexels)