Transformationslotsen: Modellprojekt in Niedersachsen zeigt, wie sich Unternehmen aus der Belegschaft heraus verändern

Im Juli 2021 erhielten Mitarbeiter*innen der Konzerne Volkswagen und Continental, vor allem aber auch von mittelständischen Unternehmen, ein Zeugnis, das sie zu „Lotsinnen und Lotsen“ macht. Damit verfügen sie offiziell über das Know-how, die Digitalisierung in ihren Betrieben voranzubringen und Veränderungen – selbst bei internen Bedenken und Widerständen – umzusetzen. Die Transformationslotsen gehören schon zum zweiten Durchgang der „Partnerschaft Transformation“, einem Modellprojekt niedersächsischer Arbeitgeber und Gewerkschaften mit ihren jeweiligen Bildungsträgern. Betiiligt sind die Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN), der Deutschen Gewerkschaftsbund Niedersachsen (DGB), das Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW) und die Bildungsvereinigung Arbeit und Leben (AUL).

Bereits die Struktur des seit September 2020 bestehenden Gemeinschaftsprojekts zeigt: Digitalisierung gelingt nicht, wenn sie von Arbeitgeber*innen als einseitiger Change Prozess angestoßen wird. Auch dann nicht, wenn einzelne Prozesse in Produktionsunternehmen umgestellt werden, im Einvernehmen mit dem Betriebsrat. Digitaler Strukturwandel entsteht vielmehr in der Mitte der Belegschaft – durch ein verändertes Denken und Handeln.

Digitalisierung begreifbar machen – und beide Seiten überzeugen

Moritz von Soden ist Geschäftsführer des Familienunternehmens Bornemann Gewindetechnik im Süden von Hannover. Er meint: „Es ist nicht sinnvoll, auf politischer Ebene fachlich über die Digitalisierung zu diskutieren, wenn wir letzten Endes nicht beide, Beschäftigte und Unternehmensleitung, überzeugen. Das gilt besonders für den durchschnittlichen deutschen Unternehmer und Angestellten: über 55 Jahre und 30 Jahre in einem kleineren oder mittleren Unternehmen (KMU) tätig. Wenn es um den digitalen Strukturwandel geht, nehmen sie eher die Rolle des Bedenkenträgers ein.“

Dem Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft zufolge (Digitalisierung der KMU in Deutschland, 2018) haben 99,6 Prozent aller Unternehmen in Deutschland weniger als 250 Beschäftigte und zählen damit zu den KMU. Auf sie entfallen 55 Prozent aller Arbeitsplätze und knapp 50 Prozent aller Umsätze. Aber nur wenige betrachten den technologischen Wandel als einen Scheidepunkt – hin zu Veränderung statt Stillstand, zu digitaler Offenheit statt Ablehnung.

Selbst nach dem Digitalisierungsschub durch COVID-19 steigt das Risiko für diese Unternehmen, notwendige Veränderungsprozesse nicht erfolgreich umsetzen und im internationalen Wettbewerb nicht weiter mithalten zu können. Um dem entgegenzuwirken, muss zweierlei ineinandergreifen: Kompetenzaufbau bei den Mitarbeiter*innen sowie die Vernetzung auf regionaler Ebene – auch mit der Konkurrenz.

Das Modellprojekt Transformationslotsen ist nach genau diesen beiden Prinzipien aufgebaut. Mit diesem Ansatz konnten nach und nach große Konzerne wie Volkswagen und Continental aber auch kleinere und mittlere Unternehmen aus Niedersachsen und vier weiteren Bundesländern von der Teilnahme an der Qualifizierung überzeugt werden. Sie schickten ausgewählte Beschäftigte in berufsbegleitende Online-Trainings zu den drei Modulen – „Produktion und Arbeitswelten 4.0“, „Bedarfserfassung, Lernprozessbegleitung, Future Skills“ sowie „Workshop-Formate und Verbesserungsinitiativen organisieren, moderieren und nachhalten“. Zurück bekamen sie lösungsbereite Teams. Wie das funktionierte? Durch die Befähigung, Veränderungen von innen heraus anzuschieben.

Handlungsorientierung statt Lagebesprechung

Christoph Brünner, Geschäftsführer der Peiner Umformtechnik GmbH aus Südostniedersachsen, beschreibt den Prozess so: „Oft fehlt es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Methoden, Probleme zielgerichtet zu lösen. Lageberichterstattungen zu den vielen täglichen Problemen in der Produktion bringen uns nicht weiter, wir brauchen Handlungsorientierung. Die Qualifizierung von BNW und AUL zu Transformationslotsen ist ein erster Schritt, um selbstständig Lösungen zu erarbeiten. Wenn das viele Beschäftigte machen und ein gemeinsames Verständnis über Ziele entwickeln, bringt uns das einen entscheidenden Schritt voran.“

Starre Strukturen und Abgrenzung bringen nicht weiter

Gleichzeitig erhalten die Transformationslotsen Zugang zu drei sogenannten Kompetenz-Hubs, lernenden Netzwerkstrukturen auf regionaler Ebene zum direkten Erfahrungsaustausch. Christoph Brünner sagt: „Für die neu gewonnen Ansätze, wie wir als KMU unsere Leistungsfähigkeit steigern und unsere IT-Infrastruktur verbessern, wird es nach der Qualifizierung ein Kernteam geben, dessen Mitglieder in diesen Bereichen konkrete Veränderungsaufgaben bekommen. Die Lösungen werden sie selbstständig erarbeiten und umsetzen. Das ist für viele ein Sprung ins kalte Wasser – und der große Fortschritt besteht für uns darin, diesen Sprung jetzt zu wagen. Dafür schätzen wir die Möglichkeit des Austausches in den Hubs mit anderen Mittelständlern, um weiter dazuzulernen und Ansätze aus anderen Branchen übertragen zu können.“

Die Möglichkeit über den Tellerrand zu schauen, überzeugte auch den Automobilhersteller Volkswagen AG. Andreas Strutz, Leiter der Bereiche Lean Academy Konzern sowie Weiterbildung Produktion und Logistik der Marke VW, sieht die große Stärke des Projekts im Zusammenhalt aller Beteiligten: „Ich glaube, für eine umfassende Transformation braucht es große Unternehmen wie Volkswagen, Continental, Siemens, Bosch usw. in den Regionen als Unterstützer im KMU-Bereich. Da wir hinsichtlich der Gestaltung eines notwendigen Veränderungsprozesses alle in einem Boot sind, können beide Seiten vom Austausch in den Hubs profitieren. Im Idealfall lernen wir mit- und voneinander und kommen gemeinsam vorwärts. Starre Strukturen und Abgrenzung bringen uns nicht weiter, um in einer schnelllebigen und flexiblen Umwelt dauerhaft bestehen zu können. Selbstbestimmt und partnerschaftlich vernetzt gestalten zu können – das ist es, was wir uns wünschen.“

Fazit

Eine erfolgreiche Transformation ist ohne den Faktor Mensch unmöglich. Mithilfe eigener Transformationslotsen sind Unternehmen in der Lage, Veränderungen und Innovationen aus der Belegschaft heraus voranzubringen. Die Qualifizierung als „Spezialist*in für digitale Transformation und Veränderungsmanagement“ ermöglicht es den Lots*innen, Prozesse auch nach der Weiterbildung weiterzuentwickeln. Sie übersetzen Branchentrends in ihren Arbeitskontext und sind gleichzeitig Ansprechpartner*innen für die Belegschaft.

Die Teilnahme am Modellprojekt ist förderfähig nach dem Qualifizierungschancengesetz und wird von der Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Niedersachsen-Bremen, unterstützt.

Weitere Informationen zum Projekt erhalten Sie auf der Website des Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft.