Führungskräften kommt bei der digitalen Transformation eine entscheidende Rolle zu. Sie sind es nämlich, die die Transformation anstoßen müssen. Das zeigen zahlreiche Unternehmen, die die Transformation erfolgreich umsetzen. Gleichzeitig tun sich die meisten Führungskräfte schwer mit der Digitalisierung. In manchen Fällen aus Unwissenheit, in anderen aus Ignoranz oder aus Verharmlosung. Wiederum andere wollen gerne, sind jedoch dermaßen von der Komplexität der Thematik überfordert, dass sie einfach an ihre Grenzen stoßen, wie eine Umfrage der BWA Akademie zeigt.

Dieser Beitrag ist all denen gewidmet, die wollen. Und die ihre Belegschaft auf die spannende Reise der Digitalisierung mitnehmen wollen. Denn ohne die Belegschaft wird es nicht gehen. Captain und Crew müssen zusammenarbeiten, um die Komplexität der digitalen Transformation zu meistern. Doch die Zusammenarbeit muss anders organisiert werden, als die Beteiligten es bisher gewohnt sind.

Schon Napoleon hätte Entscheidungsgewalt verteilen sollen

Springen wir gut 200 Jahre in die Vergangenheit zu zwei Ereignissen, die auf den ersten Blick nichts mit der Digitalisierung zu tun haben. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere hatte Napoleon Bonaparte intuitiv stets die richtige Lösung. Wann immer seine Offiziere und Soldaten mit einem Problem zu ihm kamen, wusste Napoleon, was zu tun war. Dies brachte ihm einen legendären Ruf als Kriegsherr ein und großes Vertrauen seitens seiner Soldaten. Doch als die Lage komplexer wurde, verdichteten sich die Anzeichen, dass selbst der legendäre Napoleon an seine Grenzen stieß.

Ein Soldat im Zelt im Schein einer Lampe blickt auf ein Dokument.
Die Entscheidungsgewalt auf mehrere Schultern verteilen: Das führt nicht nur bei den Streitkräften zum Erfolg, sondern auch bei der Umsetzung der Digitalisierung. (Bild: Marko Garic/Pexels)

Die Schlacht bei Waterloo am 18.6.1815 stellte Napoleons Scheitern zu Lande dar. Bereits zehn Jahre zuvor, am 21.10.1805, ließen sich Vorzeichen erkennen, dass Napoleon die Komplexität der Lage langsam aber sicher über den Kopf wuchs. An besagtem Tag im Jahre 1805 besiegte die Royal Navy unter der Führung des Vizeadmirals Horatio Nelson die französisch-spanische Armada von Napoleon. Anders als Napoleon, der die gesamte Entscheidungsgewalt auf sich konzentrierte, gewährte Nelson seinen Kapitänen und Matrosen weitreichende Freiheiten. Er förderte Talente jeden Alters, unabhängig vom Dienstgrad. Wessen Stern hell strahlte, der bekam seine Chance und wurde gefördert. Darüber hinaus beteiligte Nelson von Anfang an seine Kapitäne an der Ausarbeitung der Schlachtpläne und räumte ihnen weitreichende Autonomie ein. Anfang des 19. Jahrhunderts war das ein Unding. Doch am Ende sollte ihm das den Sieg über Napoleon zur See bringen.

Ein ähnliches Bild zeichnet gut 200 Jahre später General Stanley McChrystal in seinem Buch „Teams of Teams: New Rules of Engagement for a Complex World.“ Diesmal ist das Schlachtfeld jedoch nicht das Europa des 19. Jahrhunderts, sondern der Irak im Jahre 2003. Obwohl die alliierten Streitkräfte zahlenmäßig überlegen, bestens ausgebildet und mit neustem Equipment ausgerüstet waren, mussten die Verantwortlichen feststellen, dass sie keine durchschlagenden Erfolge gegen Al-Kaida erzielen konnten. Das Problem war, dass ihnen die Geschwindigkeit und die Flexibilität des Gegners fehlten. Während sich Al-Kaida in kleinen und regionalen Netzwerken organisierte, erlagen die Alliierten ihrer starren und pyramidenartigen Befehlsstruktur.

McChrystal beschreibt, wie es ihm mit der Gründung der Joint Special Operation Task Force letztendlich gelang, der Komplexität der Netzwerke Herr zu werden und Al-Kaida zurückzudrängen. Diesen Transformationsprozess und zahlreiche Beispiele „gewöhnlicher“ Organisationen, die mit der „Teams of Teams“-Strategie eine erfolgreiche Transformation hinlegten, legt McChrystal in seinem Buch dar.

Komplexe Lage überfordert alleinige Führungskraft

Die große Gemeinsamkeit der angeführten Beispiele ist, dass sich die Führungskräfte irgendwann darüber bewusst wurden, dass sie durch die Konzentration der Entscheidungsgewalt auf nur eine einzige Person mit der Komplexität der Lage überfordert waren. Die Mitarbeitenden hatten großes Vertrauen in sie und hofften darauf, dass sie wüssten, was zu tun ist, wenn es einmal brennt. Die betroffenen Führungskräfte nahmen dieses Vertrauen natürlich wahr und wollten ihre Mitarbeitenden nicht enttäuschen, wodurch sie enorm unter Druck standen.

Eine Gruppe aus Männern und Frauen hält sich an den Händen und steht nebeneinander am Meer im Wasser.
Bei komplexen Situationen kann eine Führungskraft alleine schnell überfordert sein. Entscheidungen im Team mit flexiblen Prozessen können Abhilfe schaffen. (Bild: Huy Chien Tran/Pexels)

Nachdem sie jedoch erkannten, dass sie so auf keinen Fall die Transformation meistern würden, mussten sie ihren Führungsstil ändern. Ähnlich wie es Admiral Nelson und General McChrystal vorgemacht hatten, hörten sie damit auf, anzusagen, wie was gemacht werden soll. Stattdessen fingen sie an, den Prozess zu organisieren, der die richtigen Antworten für die Transformation zu Tage führte. Mit anderen Worten: Sie räumten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großzügige Freiheiten und Autonomie ein, schufen starre Hierarchiestrukturen ab, gaben den Anspruch von Allwissenheit ab und beschränkten sich darauf, das Finden von Lösungen zu organisieren.

Kreative mögen keine starren Prozesse

Gerade in komplexen Situationen kommt es auf die Kreativität des Teams an. Einer allein kann nicht alles wissen und starre Prozessstrukturen verlieren ihren Effizienzvorteil, wenn das System aus dem Gleichgewicht gerät und man schnell reagieren muss. Deshalb scheitern in erster Linie Firmen mit Prozessdenken an der Transformation. Je mehr Prozessdenken in die Firma einzieht, desto weniger Raum bleibt für Kreativität. Dadurch sinkt der Anteil an herausragenden Menschen in der Belegschaft, weil die Kreativen keine starren Prozesse mögen. Wenn das Prozessdenken überhandnimmt, verlassen die Kreativen das Unternehmen. Am Anfang macht sich das nicht besonders bemerkbar. Wenn es dann jedoch zu einem Angriff durch einen Disruptor kommt, sind solche Unternehmen unfähig, schnell und flexibel zu reagieren. Auf die Fragen von heute geben sie Antworten von gestern.

Deshalb gewähren Unternehmen wie Netflix ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weitreichende Freiheiten. Zum Beispiel besteht die Richtlinie für Reisekosten, Bewirtung und Geschenke von Netflix nur aus fünf Worten: „Handle im Interesse von Netflix.“ Was das genau bedeutet, können die Mitarbeitenden selbst entscheiden. Netflix zählt auch keine Arbeitsstunden und Urlaubstage mehr. Alle Fehler, die man wieder gut machen kann, dürfen begangen werden. Die Führungskräfte von Netflix gehen mit gutem Beispiel voran und machen das gewünschte Verhalten vor. Und die wichtigste Prämisse lautet: Der Chef ist kein Spieler. Er muss nicht besser sein als seine Mannschaft. Stattdessen muss er dafür sorgen, dass sich seine Spielerinnen und Spieler optimal entfalten können. Und das bedeutet nun mal auch die Abgabe von Kontrolle und Macht.

(Titelbild: fauxels/Pexels)

Über den Autor

Georg Redekop

Georg Redekop

Georg Redekop ist Wirtschaftsingenieur für Elektrotechnik und Experte für digitale Transformation. Mit seinen Impulsen setzt er sich aktiv dafür ein, Menschen für die Möglichkeiten der Digitalisierung zu begeistern. Dabei legt er besonderen Wert auf technologische Trends wie Low-Code und Künstliche Intelligenz sowie digitale Geschäftsmodelle und deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Sein Motto: „Lasst uns spielen, um zu gewinnen.“