Virtuelle Erlebnisse für die ältere Gesellschaft zu ermöglichen: Das hat sich das Gründerteam von VRalive zur Aufgabe gemacht. Inwieweit sich der Einsatz von Virtual Reality dabei positiv auf die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen auswirkt, hat das Team gemeinsam mit dem Institut für Psychologie der Technischen Universität (TU) Braunschweig seit 2020 im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojektes VRalive untersucht. Inzwischen liegen die Ergebnisse zur körperlichen und emotionalen Gesundheit der Anwenderinnen und Anwender vor, weshalb unsere Themenmanagerin Dr.-Ing. Antonia Isabel Kuhn mit Irina Shiyanov, Mitgründerin und Ansprechpartnerin für Forschungsprojekte, über VRalive gesprochen hat.

Kuhn: 2017 habt ihr in Braunschweig die VirtuaLounge gegründet, eine Eventlocation rund um die Themen Virtual Reality und Gaming. Wie seid ihr dann auf die Idee gekommen, Softwareentwicklung und Forschung speziell für pflegebedürftige Menschen zu betreiben?

Shiyanov: „Am besten fange ich ganz am Anfang an. Vor sieben Jahren haben wir aus dem Studium heraus unsere Virtual Reality Event Location gegründet und dafür musste erst einmal die passende Technik angeschafft werden. Nach der Kreditzusage waren die ersten beiden, denen ich die Technik gezeigt habe, meine Oma und meine Mutter. Ich zeigte ihnen ein paar eindrucksvolle Spiele, oder besser gesagt Erlebnisse, weil es nicht nur Spiele sind, sondern zum Beispiel das Erlebnis auf einem Wolkenkratzer zu stehen oder mit einem Boot durch den Grand Canyon zu fahren. Beide waren so begeistert, wie ich es war, als ich die VR-Technologie zum ersten Mal ausprobiert habe, dass ich dachte, wenn ich ihnen das nicht gezeigt hätte, hätten sie das wahrscheinlich nie erlebt. Das war der Samen, der gepflanzt wurde, darüber nachzudenken, welche Menschen würden diese Erfahrungen auch nie machen, wenn wir ihnen das nicht zeigen würden. Deswegen sind wir sehr früh nach der Gründung ehrenamtlich in stationäre Pflegeeinrichtungen gegangen und haben einfach die Technik mitgenommen und aufgebaut.”

Ging das tatsächlich einfach so mit der damaligen Technik?

„Damals war die Technik in der Tat noch sehr massiv und sperrig. Wir mussten große Laptops mitnehmen und auch Stative mit Sensoren aufbauen. Anfang 2018 gab es noch keine kabellosen VR-Brillen, also war die ganze Technik auch miteinander verbunden. Zusätzlich haben wir die VR-Brille immer mit einem Monitor verbunden, damit wir sehen konnten, was die anwendende Person sieht. Auch die Interaktion mit dem Controller war für uns schwierig, da wir raten mussten, worauf wir zielen müssen, um zum Beispiel in die nächste Szene zu gelangen. Aber die Mühe hat sich gelohnt. Die Seniorinnen und Senioren haben wirklich eine Stunde vor dem Raum gewartet, bis es endlich losging, und uns gesagt, dass es sich wie Urlaub angefühlt hat oder dass sie solche Farben noch nie gesehen haben. Eine Rückmeldung hat mich aber besonders nachdenklich gemacht: Ein Heimbewohner berichtete, dass er seinen Husten vergessen habe, den er sonst immer habe. Mit meinem wissenschaftlichen Hintergrund und meinem Interesse für Neurologie war die Forschungsrichtung und unsere Idee für VRalive daraufhin schnell gefunden.”

Aufbauend auf diesen Erfahrungen, was genau waren eure Forschungsinhalte und Ziele von VRalive?

„Nach der Durchführung solcher ehrenamtlichen Events kam uns jedes Mal der Gedanke, dass es bessere Lösungen für die Handhabung bzw. Fernsteuerung der Technik und damit für den Einsatz in Pflegeeinrichtungen geben müsste. Wir wollten auch den Content, also die Erlebnisinhalte, seniorengerecht gestalten. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur sehr wenige VR-Erlebnisse, die dafür geeignet waren. Vor allem aber wollten wir herausfinden, ob VR-Interventionen die soziale Interaktion, die Aktivität und die Teilhabe an Alltagsaktivitäten von Seniorinnen und Senioren in Pflegeeinrichtungen verbessern können. Als wir anfingen, in diese Richtung zu denken, suchten wir Unterstützung bei der Technologietransferstelle der TU Braunschweig. Mein Mitgründer und ich haben in Braunschweig studiert, daher war die Technologietransferstelle unsere erste Anlaufstelle. 2019 konnten wir dann mit der Fördermaßnahme „KMU-innovativ: Einstiegsmodul“ des BMBF unser Konzept für die Forschungsinhalte von VRalive ausarbeiten und uns auf das Projekt vorbereiten. Nach der Bewilligung unseres Antrags im Rahmen der Richtlinie „KMU-innovativ“ des BMBFs konnten wir 2020 gemeinsam mit dem Institut für Psychologie der TU Braunschweig unsere Fragestellung mittels einer mehrwöchigen, längsschnittlichen Interventionsstudie mit insgesamt vier Sitzungen untersuchen.”

Musste für eure Studie die VR-Technologie an die Anwenderinnen und Anwender angepasst werden und was war insbesondere bei der Softwareentwicklung von Welten oder Erlebnissen für eure Zielgruppe zu beachten?

„Wir haben keine Hardwareanpassung vorgenommen und schon die Technik verwendet, die auf dem Markt ist. Den Controller stimmten wir jedoch so ab, dass beispielsweise alle Knöpfe die gleiche Funktion haben, um die Bedienung für die Seniorinnen und Senioren zu erleichtern. Den Content hingegen haben wir so gestaltet, dass alle Erlebnisse im Sitzen stattfinden und alle interaktiven Elemente ergonomisch in Reichweite sind. Nach einer bestimmten Interaktion wird bei uns auch automatisch zum nächsten Ort gewechselt. Der Raum wird langsam dunkler und die neue Szene wird langsam heller. Der Szenenwechsel wird dem Benutzer vorher angekündigt. So können die Anwenderinnen und Anwender sitzen bleiben und fühlen sich beim Szenenwechsel nicht unwohl.”

Wie viele Teilnehmende hattet ihr in der Studie und war die Akzeptanz der VR-Technologie bei den älteren Menschen von Anfang an vorhanden?

„Insgesamt nahmen 84 Personen aus 15 verschiedenen stationären Pflegeeinrichtungen teil. Die Altersspanne reichte von 65 bis 90 Jahren. Die Technikakzeptanz in dieser Altersgruppe war erstaunlich hoch. Natürlich gab es auch Seniorinnen und Senioren, die nicht mitmachen wollten. Einige konnten wir nachträglich durch gutes Zureden überzeugen, andere nicht. Aber das ist auch in Ordnung. Wir hatten den Seniorinnen und Senioren zusätzlich die Möglichkeit gegeben, die Erlebnisse passiv als Zuschauende über einen Bildschirm zu verfolgen. Diese Option wurde dann von einigen bevorzugt. Insgesamt war die Akzeptanz die VR-Technologie selber auszuprobieren und an der Studie mitzuwirken jedoch sehr hoch.”

Wie genau war der Ablauf einer Sitzung im Rahmen der Studie?

„Im Rahmen der Studie wurden vier VR-Interventionen über einen Zeitraum von vier Wochen mit Seniorinnen und Senioren in Kleingruppen von zwei bis fünf Personen durchgeführt. Ursprünglich war eine größere Gruppe geplant, aber aufgrund der Corona-Pandemie mussten wir unser Konzept anpassen. Grundsätzlich dauerte eine Sitzung mit einer Gruppe rund eineinhalb Stunden. Einer von uns hat sich dann um die technische Umsetzung gekümmert und zwei Psychologinnen haben die halbstündige VR-Sitzung begleitet und anschließend noch halbstündige Interviews mit den Teilnehmenden geführt. Je nach Gesprächsbedarf der einzelnen Seniorinnen und Senioren konnten die Interviews dann auch mal länger dauern. Im Rahmen der Studiendurchführung wurden jedenfalls noch zwei Wochen vor der ersten VR-Intervention Prätests durchgeführt, um die Instrumente zur Messung von Aktivitäten, Teilhabe und Wohlbefinden zu überprüfen und eine standardisierte Durchführung der VR-Anwendung zu entwickeln. Nach der letzten VR-Intervention wurden eine Woche später noch die Posttests und weitere drei Wochen später die Follow-up-Tests durchgeführt.”

Welche virtuellen Erlebnisse konnten die Studienteilnehmenden bei einer VR-Intervention erleben und welche kamen dabei besonders gut an?

„Für die Studie wurde ein virtuelles Ferienhaus mit verschiedenen Stationen entwickelt. Im Ferienhaus durchläuft man zunächst ein kurzes Tutorial, in dem man lernt, dass man Dinge anfassen kann, dass man sie wegwerfen kann, dass sie wieder auftauchen und dass nichts kaputt gehen kann. Das nimmt die Angst, etwas auszuprobieren und Unordnung zu machen. Das Wohnzimmer kann auch selbst gestaltet werden und ist die Ausgangskulisse für jede Sitzung. Hier finden sich auch Postkarten, die die Erlebnisse der vergangenen Sitzungen zeigen. Die einzelnen Sitzungen bauen aufeinander auf und steigern sich im Schwierigkeitsgrad. So kann zu Beginn eine Bank gebaut werden, die dann im Garten aufgestellt wird, Blumen gegossen, Bäume gepflanzt und Obst und Gemüse geerntet werden. Die geernteten Zutaten können dann in der Küche zum Beispiel zum Waffelbacken verwendet werden. Die Verkostung der Leckereien zwischendurch darf natürlich nicht fehlen. Durch die Verknüpfung der Erlebnisse haben die Seniorinnen und Senioren ein echtes Erfolgserlebnis und die Selbstständigkeit wird gefördert.”

Für ältere Menschen ist der Umgang mit virtuellen Erlebnissen vermutlich nicht selbsterklärend. Welche Hilfestellungen haben die Teilnehmenden während einer VR-Intervention erhalten?

„Wir haben einen kleinen Helfer, einen Roboter namens Robi, eingebaut. Er hat den Teilnehmenden die Aufgaben übermittelt und auch während der Aufgaben mit ihnen gesprochen. Eine Erkenntnis für uns war, dass die Teilnehmenden tatsächlich auch geantwortet und mit Robi interagiert haben. Durch Robi konnten die Teilnehmenden also akustische Anweisungen erhalten. Gleichzeitig haben wir auch mit blinkenden Hinweisen gearbeitet. Durch unsere Forschung haben wir gelernt, was gut und was weniger gut verstanden wird. In Bezug auf die Benutzerfreundlichkeit wissen wir jetzt, dass es mindestens zwei Arten von Hinweisen geben sollte. Sehr erfreulich war zudem für uns, dass ein Ergebnis der Studie zeigte, dass der empfundene Schwierigkeitsgrad von den Teilnehmenden mit jeder Sitzung als zunehmend passend wahrgenommen wurde.”

Kreisdiagramme bezüglich des Schwierigkeitsgrades für die jeweiligen Sitzungen.
Die Kreisdiagramme bezüglich des Schwierigkeitsgrades belegen, dass die Sitzungen von den Teilnehmenden als zunehmend passender empfunden wurden. (Bild: Prof. Dr. Beate Muschalla)

Was war die schönste Erfahrung, die du während des Forschungsprojekts gemacht hast?

„An unserem Projekt nahmen eine Seniorin und ein Senior teil, die sehr still waren und kaum sprachen. Aber nachdem wir ihnen in der letzten Sitzung ein VR-Reisevideo gezeigt haben, haben beide angefangen, von sich aus zu reden und von ihren Reisen zu erzählen. Das war mein schönstes Erlebnis. Es hat mich so gefreut zu sehen, wie die beiden aufgeblüht sind und dass wir mit unserer Arbeit so etwas bewirken konnten. Es bringt den alten Menschen viel, zu reden und sich auszudrücken. Das beugt Demenzerkrankungen vor und ist so wichtig für soziale Interaktion. Die Psychologinnen haben mir auch berichtet, dass die Teilnehmenden schon vor den Sitzungen darüber geredet haben, was wohl passieren wird und dann auch nach der VR-Intervention darüber, was sie erlebt haben. Durch diese Erfahrungen hatte ich das Gefühl, dass das, was wir uns für das Projekt ausgedacht hatten, wirklich Sinn gemacht hat.”

Über einen längeren Zeitraum habt ihr mit eurer Technik von VRalive Pflegeeinrichtungen wissenschaftlich begleitet. Welche Ergebnisse habt ihr jetzt nach Abschluss der Studie erhalten?

„Anhand der Fragebögen konnten unter anderem signifikante Verbesserungen in den Kategorien Proaktivität und Flexibilität festgestellt werden. Unter Proaktivität verstehen wir die Selbständigkeit, die wir mit unserem Forschungsprojekt auch ansprechen wollten. Sehr interessant ist, dass sich auch die kognitive Flexibilität verbessert, die eigentlich mit zunehmendem Alter abnimmt. Die teilnehmenden Seniorinnen und Senioren trauen sich jetzt, etwas auszuprobieren. Auch eine Verbesserung der Gruppenfähigkeit und der Anpassung an Regeln und Routinen wurde sichtbar. Aufgaben konnten tatsächlich von Sitzung zu Sitzung besser aufgenommen und befolgt werden. Bezüglich des Wohlbefindens zeigte sich, dass dieses bereits vor der Studie hoch war. Durch unser Projekt konnten wir hier keine signifikanten Verbesserungen feststellen. Aber auch das ist ein positives Ergebnis für uns und wir freuen uns, dass bereits ein hohes Wohlbefinden in Pflegeeinrichtungen vorhanden ist.”

Balkendiagramm bezüglich signifikanter Verbesserungen im Mini-ICF-APP Fähigkeits-Gesamtwert über die Zeit sowie in den Dimensionen Anpassung an Regeln und Routinen, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, Kompetenz und Wissensanwendung, Proaktivität und Spontanaktivitäten sowie Gruppenfähigkeit.
Balkendiagramm bezüglich signifikanter Verbesserungen im Mini-ICF-APP Fähigkeits-Gesamtwert über die Zeit sowie in den Dimensionen Anpassung an Regeln und Routinen, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, Kompetenz und Wissensanwendung, Proaktivität und Spontanaktivitäten sowie Gruppenfähigkeit. (Grafik: Prof. Dr. Beate Muschalla)
Vergleich der Werte des Wohlbefindens für die Interventionsgruppe zu acht verschiedenen Zeitpunkten. (Grafik: Prof. Dr. Beate Muschalla)

Welche Erkenntnisse habt ihr hieraus für euer Produkt gewinnen können?

„Unsere größte Erkenntnis ist auf jeden Fall, dass die Zielgruppe tatsächlich von VR-Interventionen profitieren kann und dass sie die VR-Technologie akzeptiert. Damit können wir jetzt weiter arbeiten. Außerdem haben wir viele Usability-Erfahrungen gemacht, die wir nun weiter vertiefen werden. Viele neue Erlebnisse für Seniorinnen und Senioren sind schon in Planung. Zum Beispiel haben wir die Idee für ein Slow-Motion-Badminton-Spiel. Das Spiel kann in sehr langsamer Geschwindigkeit gespielt werden, oder es wird immer schneller, je öfter der Ball getroffen wird. Wir können auch beeinflussen, ob man überhaupt einen Ball verfehlen kann. Manchmal geht es ja nur darum, sich zu bewegen. Auf jeden Fall haben wir einige Ideen aus unserer Studie mitgenommen.”

Gab es vielleicht auch irgendwelche Schwierigkeiten, auf die ihr während der VRalive-Studie gestoßen seid und aus denen ihr für die Zukunft gelernt habt?

„Ja, auf jeden Fall. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kooperationspartnerschaften sehr sorgfältig abgewogen werden müssen. Das Forschungsprojekt VRalive hatte ursprünglich mehrere Partner im Verbund, aber es wurde schnell klar, dass nicht jeder Beitrag für uns qualitativ zufriedenstellend war. Hier haben wir uns zu spät getraut, etwas dagegen zu sagen. Das hat dazu geführt, dass wir selbst mehr Arbeitspakete übernommen haben, als wir eigentlich geplant hatten. Aus heutiger Sicht würden wir viel früher etwas unternehmen und auch genauer schauen, mit welchen Partnern wir wirklich zusammenarbeiten wollen, die wir vielleicht auch schon aus früheren Arbeiten gut kennen. Nächstes Mal wissen wir, worauf wir achten sollten.”

Wann rechnet ihr damit, dass euer Produkt in Pflegeeinrichtungen eingesetzt wird? Gibt es Hürden, die ihr erst überwinden müsst?

„Wir sind mit mehreren Kranken- und Pflegekassen im Gespräch, um erstattungsfähig zu werden. Ohne Erstattungsfähigkeit wird es uns nicht gelingen, unser Produkt in stationären Pflegeeinrichtungen zu platzieren. Die Einrichtungen sind sehr daran interessiert, unser Produkt weiter zu nutzen, um den Seniorinnen und Senioren eine alternative Beschäftigung zu bieten und ihre kognitive Fähigkeit zu fördern. Ihr Budget für soziale Betreuung ist jedoch so knapp bemessen, dass es keinen Spielraum mehr gibt. Das heißt, wenn unser Produkt in die stationären Pflegeeinrichtungen kommen soll, dann müsste das über das Präventionsbudget laufen, um im besten Fall von den Kranken- oder Pflegekassen bezahlt zu werden. Unsere Studie war ein sehr guter erster Schritt auf dem Weg zur Erstattungsfähigkeit. Jetzt klären wir, ob eine weiterführende Studie oder ein Modellprojekt notwendig ist. Wenn unsere Studie ausreicht, könnte es vielleicht schon in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres so weit sein. Die größte Hürde ist auf jeden Fall genommen und unsere Technik ist einsatzbereit.”

Sind weitere Projekte von euch in Zukunft geplant?

„Wir sind immer auf der Suche nach möglichen Forschungsprojekten, denn das macht uns sehr viel Spaß. Aktuell sind wir mit weiteren Forschungsfragen im Bereich der kognitiven Aktivierung älterer Menschen und der Demenzprävention beschäftigt. Das ist ein sehr spannender Bereich, zu dem eine eigene Studie konzipiert werden müsste. Befragungen könnten hier nicht unbedingt das Mittel der Wahl sein, um eine Wirkung festzustellen. Als Evaluationsmöglichkeit könnten auch Pupillenmessungen in VR eingesetzt werden, um die kognitive Auslastung zu analysieren. Für zukünftige Anträge sind wir jedenfalls sehr froh, auf die Erfahrungen zurückgreifen zu können, die wir bei der Antragstellung von VRalive vor vier Jahren gesammelt haben.”

Wird neben eurer Projektidee auch die Entwicklung individueller virtueller Erlebnisse für Seniorinnen und Senioren in naher Zukunft möglich sein?

„Die einfachste Möglichkeit, die schon jetzt besteht, ist, dass Angehörige beispielsweise eine 360-Grad-Kamera erhalten. Damit könnten Aufnahmen der vertrauten Umgebung gemacht werden oder in Zukunft sogar eine Live-Schaltung realisiert werden. Dies wäre zwar aufwendiger, aber theoretisch möglich. Die Aufnahmen könnten zum Beispiel in eine Cloud hochgeladen und von den Pflegeeinrichtungen heruntergeladen und der Person zugeordnet werden. Computergenerierte Welten, die auf personenspezifischen Inhalten basieren, sind dagegen sehr viel aufwendiger und teurer. Wenn man in Richtung künstliche Intelligenz denkt, könnte es aber in Zukunft einfacher werden, personalisierte Erlebnisse zu schaffen.”

Welche Vorteile könnten sich aus diesen individuellen virtuellen Erlebnissen ergeben?

„Für den Fall, dass persönliche 360-Grad-Aufnahmen zum Einsatz kommen, gehe ich davon aus, dass bei den jeweiligen Seniorinnen und Senioren noch einmal ganz andere Bereiche des Gehirns angesprochen werden. Insbesondere Erinnerungen könnten stärker aktiviert werden und damit auch stärkere Emotionen auslösen. Ein weiterer Vorteil wäre, dass Pflegeeinrichtungen diese individuellen virtuellen Erlebnisse für die Erinnerungsarbeit mit den Seniorinnen und Senioren nutzen könnten. Heute werden für diese Arbeit in der Regel Fotos verwendet, über die dann gesprochen wird.”

Was wünschst du dir mit Blick auf die Zukunft für euch und für die Digitalisierung in Niedersachsen?

„Womit wir als Gründer derzeit sehr zu kämpfen haben, ist die Finanzierung. Gerade in diesem neuen, innovativen Bereich – etwas Neues mit Altem zu verbinden, wie digitale Technologien und Pflegeeinrichtungen – ist es schwierig, passende Investoren zu finden, die genauso an unsere Ideen glauben wie wir. Als Gründerin würde ich mir daher mehr Finanzierungsmöglichkeiten und damit finanzielle Unterstützung wünschen. Die Förderung von Digitalisierungsprojekten ist grundsätzlich auch für Pflegeeinrichtungen notwendig. Hier sollten Fördermittel beantragt werden können, um die Digitalisierung in Niedersachsen voranzutreiben.”

Dieses Interview wurde von Frau Dr.-Ing. Antonia Isabel Kuhn, Themenmanagerin und Expertin für Digitale Gesundheit und Life Sciences, geführt.

(Titelbild: VRalive)

Über die Autorin

Dr.-Ing. Antonia Isabel Kuhn

Dr.-Ing. Antonia Isabel Kuhn ist Verfahrenstechnikingenieurin und Expertin für Life Sciences und Gesundheit. In ihrer Funktion analysiert sie technologische Trends in Wissenschaft und Industrie und setzt sich dafür ein, dass Unternehmen und Institutionen von den Chancen der Digitalisierung im Bereich Life Sciences und Gesundheit profitieren. Dabei liegt ihr besonders am Herzen, dass die Digitalisierung sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt wird, um die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.