Lassen Sie uns mit einem kleinen Gedankenexperiment in diesen Beitrag starten. In einem Teich wächst eine Seerose. Sie wächst sehr schnell und verdoppelt jeden Tag die Fläche, die sie auf dem Wasser einnimmt. Am 30. Tag ist der Teich zugewachsen. Wie lange dauert es, bis der Teich zur Hälfte zugewachsen ist?

Potenziale von Künstlicher Intelligenz in Medizin, Pharmazie und Materialwissenschaft

Scheinbar plötzlich versteht Künstliche Intelligenz die menschliche Sprache, schreibt Texte, generiert Bilder und komponiert Musik. Selbst die Entwicklung von Programmcode oder ganzen Maschinenbauteilen ist kein Problem. So nutzen Ingenieurinnen und Ingenieure bei der NASA KI, um Bauteile für den Weltraum zu entwickeln, die sich an den Formen in der Natur orientieren. Das Besondere daran ist, dass diese Bauteile um bis zu zwei Drittel leichter sind und um den Faktor 10 niedrigere Belastungskonzentrationen aufweisen als die Bauteile, die von Menschen entwickelt wurden.

Dabei sind die Modelle und Ideen, die das möglich machen, gar nicht so neu. Sie stammen aus den 1950er und 1960er Jahren. Doch heute können sie aufgrund von Rechenleistung und Daten ihre volle Macht entfalten und machen seit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 Schlagzeilen. Plötzlich ist all das möglich, wovon die Entwickler damals geträumt haben. Und plötzlich sind alle überrascht, die sich damit nicht beschäftigt haben. Das liegt daran, dass die Entwicklung nicht linear, sondern exponentiell erfolgte. So wie bei der Seerose, die am 29. Tag erst die Hälfte des Teichs bedeckt hatte.

Mehr pharmazeutische Wirkstoffe als Atome im Universum

Auf einer roten Fläche liegen Tabletten und Pillen in unterschiedlichen Größen und Farben.
Bei der Entwicklung von Medikamenten kann Künstliche Intelligenz viele Arbeitsschritte ersparen, beispielsweise durch den Einsatz eines Super-Computers. (Bild: Anna Shvets/Pexels)

Doch es ist nicht nur die exponentielle Entwicklung der Technologie, die uns überrascht, sondern auch, was mit ihr alles möglich wird, insbesondere in den regulierten Umfeldern wie beispielsweise der Arzneimittelentwicklung. Schätzungen zufolge gibt es zehn hoch 60 potenzielle pharmazeutische Wirkstoffe. Das sind mehr als die Anzahl der Atome in unserem Universum. Wie sollen die Beschäftigten in den Laboren all diese Wirkstoffe und ihre Kombinationsmöglichkeiten jemals analysieren? Zehn hoch 60, die Zahl ist einfach erschlagend. Pharmazeuten gehen daher oft von bekannten Wirkstoffen aus und überlegen, wie sich strukturelle Veränderungen an deren Molekülen auf ihre Eigenschaften auswirken könnten. Anschließend müssen sie unzählige Varianten dieser Moleküle synthetisieren und testen – und die meisten erweisen sich als Fehlschläge.

KI kann diese Labortests und Fehlschläge zukünftig obsolet machen. So hat der Chemiekonzern BASF in Ludwigshafen einen Super-Computer installiert, der 1,75 Milliarden Rechenoperationen in der Sekunde durchführen kann. Das ist in etwa die Rechenleistung von 50.000 Notebooks. BASF nutzt den Super-Computer, um Material- und Systemeigenschaften chemischer Verbindungen zu simulieren, was zuvor nur in Laboren möglich war. So kann die Zusammensetzung eines neuen Produkts aus hunderttausenden verschiedenen Inhaltsstoffen am Rechner getestet werden, bevor überhaupt ein Laborexperiment stattgefunden hat. Der oft mehrjährige Forschungsprozess kann dadurch beschleunigt und ein neues Produkt schneller entwickelt werden. Die Zukunft der Laborwissenschaft sind Data Science, Computer Science sowie virtuelle Modellierung und nicht das Schwenken von Reagenzgläsern im Labor.

Herausforderungen in Ethik, Datenschutz und Wettbewerb

Doch Rechenleistung und Algorithmen allein reichen nicht, um die Potenziale in der Pharmazie oder der Individualmedizin zu heben. Es braucht auch den Zugang zu Datenströmen, was sich insbesondere in regulierten Umgebungen vor allem in Europa als eine Herausforderung darstellt. Datenschutz wird bei uns großgeschrieben: DSGVO. Und das hat natürlich auch seinen Grund, denn das Missbrauchspotenzial ist enorm. Hierbei stellt das chinesische Social Credit System sicherlich ein Extrem dar, von dem unter anderem abhängig ist, ob man eine Wohnung, eine Autozulassung oder Flugtickets ins Ausland bekommt. In Kombination mit medizinischen Daten könnte dieses Extrem gänzlich andere Dimensionen erreichen, zum Beispiel ob eine medizinische Behandlung durchgeführt wird oder ob sich die betroffene Person überhaupt fortpflanzen darf, denn vielleicht sind ihre Gene nicht gut genug. Das will bei uns in Europa niemand.

Doch nur wer den Zugang zu den Datenströmen hat und diese klug miteinander kombinieren kann, kann daraus Mehrwerte für die Menschheit generieren. Und hier sind die Unternehmen aus den USA und China klar im Vorteil. Diese Datenräume bieten die notwendigen Freiheiten, um derartige Technologien zu entwickelt und zu testen, um sie dann, wenn auch Europa so weit ist, hier bei uns auszurollen. Dabei werden Digitalkonzerne wie Apple eine entscheidende Rolle spielen. Mit ihren Wearables haben sie eine ideale Ausgangslage, um sich geschickt zwischen Endverbraucher und beispielsweise Medizin zu positionieren, um Daten zu sammeln und daraus Geschäftsmodelle zu entwickeln. Und die Menschen werden es mitmachen, weil es bequem ist. Und Bequemlichkeit ist etwas, das die Digitalkonzerne verstehen, denn es ist seit jeher ihr Geschäft, wie beispielsweise die Entwicklung von Blutzuckersensoren, die per Hautkontakt den Blutzuckerspiegel im Körper messen.

Physischer Standort ist kein Wettbewerbsvorteil bei digitalen Anwendungen

Luftbild eines riesigen Hafens mit unzähligen Containern und Kränen.
Wer digitale Produkte vertreibt, ist nicht mehr auf einen physischen Standortvorteil angewiesen. (Bild: Tom Fisk/Pexels)

Wir in Europa sehen uns einem Wettbewerb ausgesetzt, bei dem wir nur mitziehen können, wenn wir entsprechende Datenräume schaffen, die es erlauben die Datenströme anonymisiert zu nutzen, um KI-Anwendungen oder ähnliches zu entwickeln. Dies ist notwendig, da im Zeitalter der Digitalisierung ein physischer Standort kein Wettbewerbsvorteil mehr ist. Deutschland beispielsweise hat eine günstige geografische Lage, wenn es darum geht, physische Güter in alle Welt zu exportieren. Zentral gelegen in Europa und von Frankfurt am Main sind es nur zehn Flugstunden nach Shanghai (China) sowie neun Flugstunden nach New York (USA). Bei Datenströmen zählt dieser Vorteil jedoch nicht. Sie fließen einfach vor sich hin, werden ständig gesammelt und an die Unternehmen übertragen, deren Dienste ich nutze. Und in den meisten Fällen sitzen diese Unternehmen nicht in Deutschland. Es muss also attraktiv werden, KI-Anwendungen in Europa zu entwickeln, um diese dann in die Welt zu bringen.

Wie kann eine mögliche Förderung aussehen? Ich bin ein großer Fan davon, in andere Branchen zu schauen und die dort gewonnen Erkenntnisse in die Hausbranche zu übertragen. Ein Beispiel: In Deutschland werden die Unternehmen dafür finanziell bestraft, dass sie CO2 in die Umwelt abgeben. Auch wenn sie durch entsprechende Maßnahmen CO2 einsparen, so werden sie trotzdem bestraft. Die Strafe fällt zwar niedriger aus als vorher, aber es ist trotzdem eine Bestrafung. In den USA hingegen werden die Unternehmen dafür belohnt, dass sie CO2 einsparen. Für jede Tonne eingespartes CO2 erhalten sie eine Steuergutschrift auf das Konto. Die Idee ist nun, dass man Mechanismen entwickelt, die die Unternehmen dafür belohnen, dass sie KI-Anwendungen entwickeln, die zum Beispiel selber erklären, warum und wie sie zu einem bestimmten Ergebnis gekommen sind. Derartige Unternehmen könnten dann auch Zugang zu besonders sensiblen Daten bekommen, um ihre Anwendungen zu verbessern.

Es ist eine Idee. Und bekanntermaßen beginnt alles mit einer Idee.

(Titelbild: Polina Tankilevitch/Pexels)

Über den Autor

Georg Redekop

Georg Redekop

Georg Redekop ist Wirtschaftsingenieur für Elektrotechnik und Experte für digitale Transformation. Mit seinen Impulsen setzt er sich aktiv dafür ein, Menschen für die Möglichkeiten der Digitalisierung zu begeistern. Dabei legt er besonderen Wert auf technologische Trends wie Low-Code und Künstliche Intelligenz sowie digitale Geschäftsmodelle und deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Sein Motto: „Lasst uns spielen, um zu gewinnen.“